Körperliche Einschränkungen zu akzeptieren, ist ein langer Prozess.
Bei chronischen Krankheiten wird er vielleicht nie vollständig abgeschlossen. Denn auch wenn die Diagnosen in die eigene Identität eingebettet und der Alltag so zugänglich wie möglich eingerichtet wird, sind da noch die Symptome: Sie schmerzen, lassen nicht schlafen, machen müde und das Essen schwierig. Ihr Nicht-Vorhandensein ist auf der einen Seite einfach vorzustellen (vor allem wenn es einmal eine symptomfreie Zeit gab), denn die Nicht-Existenz von etwas Störendem wird als Wunsch umso stärker, je mehr es uns belästigt. Auf der anderen Seite ist ein Leben ohne Symptome für viele von uns chronisch Kranken so weit weg, dass davon nur eine neblige Ahnung übrigbleibt, weil wir die Symptome schon so lange haben – sie sind ja schliesslich chronisch. Chronisch heisst, dass die Symptome lang andauernd, irgendwo zwischen einem Monat und für immer.
Der Versuch, diesen Umstand zu akzeptieren, mir also auf eine konstruktive Art und Weise einzugestehen, dass ich vielleicht für immer belastende Symptome haben werde, hat viel mit ‹Entlernen – Entwerfen› zu tun. In diesem Text möchte ich meine Erfahrungen und Gedanken über den Krankheits-Akzeptanz-Prozess mitteilen.
Bei mir ist dieser Prozess vor allem im Bezug zu meinem politischen Tätigsein herausfordernd. Ich möchte über diese Schwierigkeiten berichten, weil ich glaube, dass es vielen ähnlich geht wie mir. Ich glaube, dass gesellschaftliche Veränderungen in Richtung eines gerechteren und freieren Zusammenlebens dringend nötig sind und dass diese Veränderungen nicht einfach so passieren, sondern dass sie von uns[1] gemacht, erkämpft werden müssen. Und statistisch gesehen sind einige von uns, wahrscheinlich sogar mehr als wir denken, chronisch krank, oder werden es einmal sein. Wieso also nicht jetzt schon darüber nachdenken?
Ein intellektueller Kampf? Gegen das ‹kranken System›?
Lange dachte ich irgendwie, dass das Akzeptieren meiner chronischen Krankheiten intellektuell zu bewältigen ist. Und dass eine intelligente, kritische Feministin wie ich dabei wahrscheinlich nicht allzu grosse Probleme haben wird. Ich dachte, dass ich diesen Prozess schnell abschliessen würde, in dem ich mir die richtigen Gedanken machen und daraus die richtigen Handlungen ableiten würde. Und dass ich dann weitermachen würde wie bisher.
Ich lag falsch. Nachdenken, Lesen und Diskutieren helfen zwar dabei zu erkennen, dass ein grosser Teil unseres Leistungsdenken kapitalistische Selbstdisziplinierung ist und dass die Vorstellung von ‹normalen Körpern› alles andere als normal ist. Aber die ganzen Gefühle von Enttäuschung und Scham darüber, zu wenig machen zu können, sitzen tiefer, als ich angenommen hatte.
In Selbsthilfebüchern las ich immer von Menschen, die damit haderten, ihre Familie im Stich zu lassen, weil sie es nicht schafften, am Sonntag Brettspiele zu machen oder ihren Kindern selbstgefüllte Znüniböxli in die Schule mitzugeben. Oder von Leuten, die von einer tiefen Trauer erfasst wurden, als ihnen dämmerte, dass der vor Jahren gefasst Karriereplan aufgegeben werden muss oder sie vielleicht überhaupt nicht mehr arbeiten werden können. Oder ich las von Bitterkeit, weil weder Mountainbiken noch Interrailen funktioniert, wenn alles wehtut.
Ich dachte dann immer: Das betrifft mich nicht. Ich will keine Kinder, Interrail hab’ ich gemacht, Sport nie gemocht und Lohnarbeit ist doch eh nur kapitalistische Notwendigkeit und hoffentlich bald abgeschafft. Ich dachte, diese Bedürfnisse und die daraus resultierenden schwierigen Gefühle entstünden, weil wir in einem kapitalistischen, sexistischen, und grundsätzlich falschen System lebten. Ein System, das Unproduktive und Kranke hasst. Ein System, das wir kollektiv bekämpfen und durch unsere gerechteren und freieren Alternativen ersetzten sollten. Wenn das leistungserzwingende Ausbeutungssystem weg ist, hadern wir auch nicht mehr so mit unserem Kränkeln, dachte ich. Deshalb würde es mir sicher nicht sehr schwerfallen, meine Krankheiten zu akzeptieren: Weil ich ja schliesslich weiss, dass ein Grossteil meiner Probleme nicht von meinem Körper ausgeht, sondern von der Gesellschaft, die nicht weiss, wie sie mit Kranken umgehen soll und die den Wert von Menschen an ihrer monetär verwertbaren Leistung misst.
Ableistische Gedanken tief in mir
Ich stellte mir also vor, wie ich nach einigen Jahren, mittendrinn in diesem Prozess der Abarbeitung am ‹kranken System›[2] aufwachen würde, und meinen eigenen Krankheits-Zustand akzeptieren könnte. Ich wäre zwar krank, aber am Kämpfen.
Für meine Identität war ein engagiertes, ausserparlamentarisches Politikverständnis schon lange wichtig: Ein bisschen ‹Get off the internet, I’ll meet u in the street›, ein bisschen ‹Es gibt nichts Gutes, ausser man tut es›, ein wenig ‹Alles andere ist Quark›. So gesehen muss ich aber irgendwo anwesend sein und etwas tun, um politisch zu handeln. Das ist nicht immer einfach, wenn ich manchmal krankheitsbedingt die Wohnung oder das Bett nicht verlassen kann.
Trotzdem hielt ich den Glauben daran, dass sich Politik und Kranksein schnell auf eine heilsame Art und Weise einpendeln würden, am Leben. In den ersten Jahren meines Krankseins glaubte ich im unbewusst Geheimen sogar daran, dass ich vielleicht irgendwie – wundersam – in meinen Idealen aufgehen könnte und dann durch mein Tätigsein so erfüllt wäre, dass mein Körper wieder funktionierte. Was für ein religiöser und ableistischer Gedanke! Er wurde von der Befürchtung genährt, dass vielleicht – vielleicht – vielleicht doch diejenigen medizinischen Autoritäten recht hatten, die andeuteten, dass meine Schmerzen aus meinem unzufriedenen, hysterischen[3] Kopf kamen. Wie konnte ich sicher sein, dass sie nicht recht hatten? Vielleicht führte ich einfach mein Leben falsch, nicht in Übereinstimmung mit meinem Inneren, nicht in Einstimmung mit meinen Idealen – vielleicht macht mich das krank?
Diese Angst kam von tief innen, da wo die ganzen Vorstellungen über Krankheiten als Strafen des falschen Lebens sitzen, von denen ich nicht wusste, dass sie sich bereits vor langer Zeit in mich eingenistet hatten.
Mit wehenden Haaren auf Barrikaden stehend
Schon bald zeigte sich, dass sich mein abstrakt geglaubter Krankheits-Akzeptanz-Prozess gerade an meinen Anforderungen ans politische Tätigsein entfesselt: Krank konnte ich nicht mehr zuverlässig an Sitzungen sein und Termine abmachen und hatte x-fach Angst vor Repression: Was wäre, wenn ich verhaftet würde, ohne meine Medis dabeizuhaben oder eingekesselt einen Crash hätte?
Ich fühlte mich unverstanden und nicht-mitgedacht, wenn vorausgesetzt wurde, dass an kalten, unbequemen oder mit Reizen überfluteten Orten marschiert, gestanden, geschrien, geplant, gesessen wurde. Denn so sieht doch politischer Kampf klassisch aus: Motivierte, starke, standfeste Körper mit Wind in den Haaren auf Barrikaden stehend, bereit sich in Gefahr zu stürzen. Dazu passt es schlecht, dass mein verwirrtes Hirn normale Mitteilung anderer Körperteile als Schmerzen interpretiert und dadurch die Gefahr in mich selbst verlegt.
Ich bin gerade nicht standfest und auch nicht motiviert. Motivation braucht einen Überschuss an Energie, Standhaftigkeit ein funktionierendes orthostatisches System. Und wenn ich die Bedeutung von ‹chronisch› tatsächlich annehmen will, bedeutet es auch, mir einzugestehen, dass es möglich ist, dass ich weder morgen noch in einigen Jahren, standfest oder motiviert sein könnte.
Was bedeutet das nun (für mich)?
Der saure Kern
Dass ich nicht so sein kann, wie ich mich gerne gedacht hätte und das, bevor ich es überhaupt richtig ausprobieren konnte (weil ich jung krank wurde), fühlt sich wie das Schlucken eines mit Säure getränkten Avocadokerns an. So, als wäre mir etwas lange Versprochenes nicht nur entrissen, sondern seit dann auch fast täglich vorgeführt worden. Beispielsweise dann, wenn ich in politischen Räumen mitbekomme, dass die Handlungsfähigkeit von anderen gewisse Tätigkeiten umfasst, die mir nicht mehr zugänglich sind. Oder dann, wenn ich merke, dass gewisse Leute in diesen Räumen sich nicht bewusst sind, dass diese Handlungen nicht allen offen stehen, oder sie ihr Wissen darum zumindest nicht zur Schau stellen, sondern stattdessen eine ‹Verdammt nochmals, warum macht ausser mir niemand was, die Welt geht schliesslich vor die Hunde»-Attitude pflegen.
Das Gefühl einer entrissenen Versprechung ist das Privileg (und vielleicht der Mythos) der leistungsfähigen Verkörperung, welche ohne Barrieren gestaltend und partizipierend durch die Welt schreiten kann. Ein Privileg, das ich für eine natürliche Bedingung meines Menschseins gehalten habe.
Nichts ist natürlich.
Und schlussendlich spielt es vielleicht keine Rolle, ob um Mountainbiken oder linkes Politzeugs getrauert wird. Beides geht tief und erinnert doch irgendwie schnell an den eigenen Tod und die Vergänglichkeit und daran, dass wir weniger im Griff haben, als wir gerne glauben wollen.
Damit ich jetzt und zukünftig nicht nur enttäuscht rumliege, könnte ich meine Situation akzeptieren und die damit einhergehenden neuen Handlungsspielräume entdecken. Die Leute aus den Selbsthilfebüchern und ich könnten lernen, dass wir Gewisses aufgeben, anderes umdeuten können. Bezogen auf anarchafeministische Politik hab’ ich eigentlich Glück gehabt: Sie ist vielseitig. Und viele Vordenker*innen und Mitstreiter*innen haben schliesslich darauf aufmerksam gemacht, dass das Stehen auf Barrikaden und das immer-wieder-verhaftet-Werden – wie unausweichlich dies auch sein kann – als Inbegriff von revolutionärer Politik zu kurz gedacht ist.
Ich hatte vergessen, meine eigene Politikvorstellung zu dekonstruieren.
Ich hatte vergessen, die darin eingeschriebenen und oft mit einer abledbody Männlichkeit assoziierten Ideale zu entlernen. Ich hatte vergessen zu fragen, wer denn bei dieser standfesten Politikvorstellung nicht dabei sein kann, wer wohl stattdessen Carearbeit leistet und warum diese auch hier so viel weniger Achtung findet.
Ich hatte vergessen, dass Feminist*innen schon lange sagen, dass das Private politisch ist und dass diese Trennung eigentlich genauso faul ist, wie die ganzen anderen nervigen Binaritäten, von deren Überwindung wir so profitieren könnten. Ich hatte vergessen, dass meine strenge Einteilung in politisches Voranschreiten und unpolitisches Liegen zu einfach gedacht ist. Ich hatte vergessen, dass wirklich revolutionäre und emanzipierende Politik die Fähigkeiten und Bedürfnisse unserer Vielheit umschliessen muss. Ich wollte mir diese Gedanken als beruhigender Balsam über meine Sorge streichen, über die Sorge, selbst zu wenig für eine bessere Welt zu tun, zu wenig teilzuhabenhaben und sichtbar zu sein als eine von denen, die es versuchen. Denn schlussendlich war es auch diese Angst, die mich neben den sonstigen Symptomen ins Bett drückte und blockierte. Es war und ist diese Angst, die mich davon abhält, Formen von politischem Handeln zu finden, die mir und meinen kranken Freund*innen offenstehen.
Ich möchte also diejenigen Elemente meines Politikverständnis entlernen, die mir nicht guttun und stattdessen gemeinsam mit anderen Kranken ein Politikverständnis entwerfen, das unsere Handlungsfähigkeit stärkt, statt uns durch Schuldgefühle zu schwächen. Ein Politikverständnis, in dem wir Sorge um uns tragen können, ohne ins individualistische Self-Care Business abzurutschen, in dem das Erwerben einer Gesichtsmaske mit persönlicher Befreiung gleichgesetzt wird. Ein Politikverständnis, das Sprengkraft hat und uns ermutigt, dass Veränderungen möglich und notwendig sind.
Doch was kommt, wenn dieser ständige Entlernprozess glückt und Platz für eine umfassendere Politikvorstellung gemacht wird? Wie ist es emotional einzuordnen, wenn wir wie Johanna Hedva mit einer solidarisch ausgestreckten Hand im Bett liegen, während unten auf der Strasse die Demo vorbeizieht? Und wie wird dies alles eingeordnet im Wissen darum, dass wir – die, die eine gerechtere und freiere Welt für alle wollen – nicht auf standfestes und zuverlässiges Kämpfen und Organisieren verzichten können, wir auf Strassen auftauchen und unsere Räume verteidigen müssen und es mit grosser Wahrscheinlichkeit zu umso wilder wird, je grösser die von uns verkörperte Gefahr für das schlechte System ist? Wie kann das alles vermittelt und in ein krankheitsakzeptierendes, politisches Selbst eingebunden werden? Wie kann ich meine Rolle als chronisch und politische Kranke in diesem Ganzen ausmachen?
Ich bin auf der Suche.
Nach solchen Antworten und nach Menschen, die sich in der gleichen Situation befinden. Danach, was Lösungen für mich sein könnten. Ich habe den Verdacht: Von uns gibt es viele. Im Gespräch mit Freund*innen bemerken wir immer wieder, dass es helfen könnte, sich nicht als einzelnes Subjekt, sondern als Teil einer vielseitigen und grossen Bewegung zu fühlen. Eine Bewegung, in der nach Fähigkeiten und Bedürfnissen das gemacht wird, was geht. So könnte der Spruch «Wer, wenn nicht wir? Wann, wenn nicht jetzt?» für chronisch krankes Politisieren lauten: «Nicht ich, aber wir. Solidarische Grüsse aus dem Bett» und «Wann, wenn nicht dann, wenn es mir wieder ein bisschen besser geht». Die Kunst liegt dabei aber sicher darin, zu vertrauen, dass man den Moment bemerkt, in dem es dann doch darum geht, mit dem kranken Körper dem schlechten System die letzten Stösse zu versetzen oder ihn schützend vor unsere neuen Strukturen zu stellen.
Einen weiteren Verdacht: Es wäre ebenfalls hilfreich, szenig krasses Gehabe und mackerisches Abwerten von (Self-)Carearbeit sichtbar zu machen, zu kritisieren und abzuschaffen. Auch in uns selbst, damit wir Ableismus und seine kapitalistischen Leistungsforderungen gemeinsam immer wieder aus uns herauslösen können. Wichtig ist sicher auch, Verbindungen zwischen dem eigenen Gesundheitszustand und Unterdrückungsmechanismen festzustellen: Kapitalismus, Rassismus, Sexismus, Klassismus, Hetero- und Cisnormativität, Ableismus, und andere Diskriminierungs- und Unterdrückungsverhältnisse beeinflussen das Auftreten von Traumatisierungen und Erkrankungen, erschweren den Zugang zu benötigten Ressourcen und die Sterblichkeitsrate von verschiedenen Erkrankungen. Und im neoliberalen System, in dem wir leben, werden gewisse Erfahrungen, Schwierigkeiten und menschliche Zustände zunehmend als medizinische Probleme definiert, für die Medikamente gekauft werden sollen. Gleichzeitig kämpfen Menschen für die dringend benötigte Anerkennung gewisser Diagnosen, die heute noch zu wenig gesellschaftliche Legitimität haben, um Betroffenen den Zugang zu entsprechenden Hilfeleistungen zu ermöglichen.
Kranksein ist kompliziertes Terrain. Was sich aus diesen ganzen Überlegungen und Gefühlen herauskristallisiert, ist aber den Ansatz einer Idee einer radikalen Selbstsorge. Manchmal besteht sie vielleicht darin, zu Hause zu bleiben und lieb zu mir zu sein, obwohl ‹die, die es versuchen› jetzt alle an irgendeinem Politanlass sind und mich meine Polit-FoMO panisch macht. Manchmal besteht sie vielleicht darin, gegen Ärzt*innen und andere Gatekeeper*innen aufzustehen und uns gegenseitig im Kampf um benötigte (medizinische) Ressourcen zu unterstützen. Manchmal darin, Ableismus in der radikalen Linken oder in feministischen Räumen anzusprechen. Manchmal aus dem Ausmachen des feinen Grades zwischen radikalem auf-sich-acht-Geben und der konsumistischen Self-Care Version davon, bei der es schlussendlich darum geht, sich zu optimieren.
Ich schreibe aus der Position einer chronisch Kranken, die hofft, dass wir gemeinsam eine radikale (Selbst-)Sorge entwerfen, die so tief in uns allen verankert ist, dass sich Krankheits-Akzeptanz-Kämpfe nicht mehr im eigenen Verhältnis zu politischem Tätigsein abspielen müssen, weil eh klar ist, dass hier alle Platz und Wichtigkeit haben, die ähnliche Ideale teilen, egal in welcher Form sie wann, wie viel machen. Eine radikale Selbstsorge ist aber nicht nur für chronisch kranke Feminist*innen wichtig, sondern für alle, denn der herrschende Zustand macht uns alle – früher oder später, länger oder kurzfristig – schmerzend, ängstlich oder traurig. Damit unsere Kämpfe lange Kraft haben und unsere Leben lebenswert sein können, brauchen wir Werkzeuge, um für uns selbst und füreinander in solchen Situationen da sein zu können.
Text veröffentlicht: RosaRot : Zeitschrift für feministische Anliegen und
Geschlechterfragen (2020), Heft 58, S. 25-29
Bezugsnahmen:
Hedva, Johanna: sick women theory
Sontag, Susan: Illness as Metaphor & Aids and its Metaphors, London: Penguin 1991
[1] Es ist oft heikel, ein ‹wir› vorauszusetzen, denn unsere jeweiligen Erfahrungen hängen von so vielen Faktoren ab. Ich verwende das ‹wir› einerseits um von mir und meinen kranken Freund*innen zu sprechen, anderseits als ein ‹wir›, das mich und dich, eine Person, die das RosaRot in die Hand genommen hat und bereit ist, sich auf einen Text über chronisches Kranksein und Politik einzulassen, umfasst.
[2] Ein System als ‹krank› zu bezeichnen, verwendet eine Lebensrealität von Menschen als Metapher für etwas Schlechtes. Krankheiten als Metaphern zu verstehen, kann sich negativ auf Betroffene auswirken, wie beispielsweise Susan Sontag 1978 in Illness as Metaphor gezeigt hat. Das System ist nicht krank, es ist ausbeuterisch und unterdrückend. Und Krankheiten sind, auch wenn sie von Betroffenen oft weggewünscht werden, nicht zwingend schlecht. Sie können neue Perspektiven und Lebensweisen eröffnen. Was uns das Disability Movement bezüglich Behinderung und sozialer Konstruktion von Barrieren und Zugänglichkeiten gelernt hat, trifft auch bei Krankheiten zu: Das Problem liegt nicht (nur) in den Symptomen, sondern wie damit in einer Gesellschaft umgegangen wird. Die Verwendung des Begriffs des ‹kranken Systems› an dieser Stelle soll das diesbezügliche Unwissen der Autorin zum Zeitpunkt der beschriebenen Überlegungen anzeigen.
[3] Hysterie wird, nach meiner Erfahrung, von Ärzt*innen längst nicht mehr als solche angesprochen, sondern findet ihr gemeines Erbe in Andeutung betreffend der schlechten «Lebenshygiene einer jungen Frau», welche wohl die Symptomatik auslösen müsste. Ich fand ihre Spuren in Ratschlägen von medizinischen Autoritäten, mich «endlich zu entspannen und nicht reinzusteigern». Ich fand sie in Kontroversen um umkämpfte ‹Frauen-Krankheiten› wie Fibromyalgie oder dem Chronischen Erschöpfungssyndrom, deren Legitimität und Zugang zu benötigten Ressourcen auf Grund ‹fehlender Objektivizierbarkeit› immer noch abgesprochen wird.
Fotocollage mit Fotos von: JP Valery, Joice McCovn